Schade, dass Kinder keine Flugzeuge sind!
26. Februar 2021
Während der Lufthansa sofort Milliarden an Subventionen zugeschoben wurden für Flugzeuge, die am Boden bleiben, warten in Coronazeiten Kinder vergebens auf die Gelder für den Ausbau der Schulen, für coronagerechte Austattung wie Lüftungsgeräte, weitere Lehr- und Betreuungskräfte, für die Anmietung von zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten. Stattdessen pries der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz Ende Januar, fast ein Jahr nach Beginn der Pandemie in Deutschland, vor laufender Kamera als einziges Resultat der Beratungen das „Konzept“ der Lüftung, eine Maßnahme die kein Geld kostet, wenn nur das Öffnen der Klassenfenster gemeint sein sollte.
Mittlerweile ist viel Zeit vergangen, und nach wie vor sind viele Fragen offen. Zwar sind in der letzten Februarwoche in den meisten Bundesländern die Schulen für einen Teil der Schüler*innen wieder geöffnet worden, zumindest bis auf Weiteres, doch unter welchen Bedingungen und mit welchen Unterrichtskonzepten? Distanz? Präsenz? Hybrid? Wo bleiben Begleitforschungen zu diesen Unterrichtsformen? Wo bleiben Begleitforschungen zu Infektionen, Übertragungswegen und infektionsvermeidender Ausstattung in Schulen und Kitas ? Wo bleiben Konzepte umfassender präventiver Testung in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen? …
Und was müsste und könnte sofort geschehen, damit unter Pandemiebedingungen sinnvoll Unterricht stattfindet – und zwar nicht auf Kosten der Lehrkräfte? Es müsste sicher sehr viel Geld in die Hand genommen werden, wie es ja bei der Lufthansa sehr schnell möglich war. Übrigens auch bei der Firma Adidas, die bereits angekündigt hat, wieder Dividenden auzuschütten. Klassen müssten geteilt werden, und zwar im Präsenzunterricht. Dazu könnten private und öffentliche Räume angemietet werden. Für die Kinder, die nicht unterrichtet werden, könnte Still- und Gruppenarbeit unter Betreuung von bezahlten Studierenden, die jetzt keine Nebenjobs mehr haben, stattfinden. Wahrscheinlich lassen sich mit einigem Nachdenken noch viele Möglichkeiten entwickeln. Dazu bräuchte es Geld, Wille, Mühe und Phantasie!
Doch die Planlosigkeit der Bildungspolitiker ist nicht einfach eine Regierungsschwäche in einer für alle neuen Situation, sondern ein systemisches Versagen der neoliberalen Agenda. Wie im Gesundheitswesen, das durch Privatisierung kaputtgespart wurde (glücklicherweise nicht in dem Maße, wie die Bertelsmann-Stiftung es anvisiert und propagiert), ist auch die Staatsquote für das Bildungssystem gesunken. Denn, so der Tenor der herrschenden Austeritätsdoktrin: Irgendwo müssen ja die Steuersenkungen und Subventionen für die großen Unternehmen eingespart werden – am liebsten aber doch, wie gehabt, im Bildungs- und Sozialsystem.
So bleiben die Klassengrößen – zumindest in der Primarstufe und Sekundarstufe 1 – weiterhin überhöht. Viele Schulen sind marode, Frontalunterricht ist – außer an Gesamtschulen – gang und gäbe, Behebung von Lernproblemen wird weitgehend von den Eltern privat erwartet – an dem mehrgliedrigen Schulsystem mit der heiligen Kuh Gymnasium wird nicht gerüttelt. Das alles ist seit Jahrzehnten bekannt. Empirisch nachgewiesen ist die hohe Selektivität des deutschen Bildungssystems, in dem Kinder von nichtakademischen und schwächer gestellten Eltern wenig Chancen haben, das Abitur zu erlangen – auch nicht bei vergleichbaren Leistungen. Mit dem bisher durchgeführten Distanzunterricht wird sich diese Benachteiligung vieler Kinder noch verschärfen. Selbst wenn eine entsprechende digitale Ausstattung zu Hause vorhanden sein sollte, ist – so alle Erfahrungen der bisherigen Lockdowns – eine notwendige qualifizierte Hilfe auch für Eltern mit akademischem Hintergrund oft nur schwer zu gewährleisten.
Doch „Digitalisierung ist kein pädagogisches Konzept“ (vgl. http://lankau.de/2020/12/10/digitalisierung-ist-kein- paedagogisches-konzept-2/), wie mittlerweile ausreichend wissenschaftlich belegt und in der Praxis des Lockdown von Schüler*innen , Lehrer*innen und Eltern leidvoll erlebt worden ist. Digitaltechnik ist und bleibt ein – mögliches – Hilfsmittel für Unterricht. Sie ist nicht entscheidend für Lernerfolge und Bildungsprozesse. Für Lern- und Verstehensprozesse, für die Entwicklung von selbständigen Persönlichkeiten, sind direkte Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden, die soziale Interaktion in den Klassen und Kursen unabdingbar. Und so gilt auch in Coronazeiten: “Kein Mensch lernt digital” (Ralf Lankau). Schließlich sind Schulen dringend erforderliche Orte des sozialen Austausches und Miteinanders, auf den gerade auch Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten angewiesen sind.
Es steht dringend eine kritische Diskussion an: Was verstehen wir unter „Bildung“? Wie ist die Forschungslage zu den Effekten digitaler Bildung in Schule und Unterricht? Mit welchen Zielen und wie soll Bildung unter den Bedingungen der Digitalisierung gestaltet werden? Verbessert die Dominanz der Digitalisierung Unterricht und Bildungs- und Erziehungsprozesse? Schadet sie gar? Wie kann ein sinnvoller und von den Nutzern kontrollierbarer Einsatz digitaler Medien im Bildungswesen erfolgen?
Was wirklich nottut! Die gravierenden Versäumisse der letzten Jahrzehnte fallen den Schulministerien in allen Bundesländern, aber besonders auch in NRW, auf die Füße. Nach wie vor stehen die uneingelösten Forderungen aus der Zeit vor Corona auf der Tagesordnung – also kleine Klassen, bessere Ausstattung sowie Ausbau der Schulgebäude einschließlich der Sanierung der Schultoiletten, mehr Lehr- und Betreungskräfte, die Umsetzung der vorhandenen Konzepte des kooperativen Lernens. Mit der viel gepriesenen, vorwiegend technologisch orientierten Digitalisierung wird es bei weitem nicht getan sein.
Nicht weiter verschleiert und von der Agenda verdrängt werden dürfen die eigentlichen und grundlegenden Mängel des Bildungswesens:
– die soziale Schieflage, der zunehmende einseitige Leistungsdruck sowie vielfältig wirkende und mit „Begabungs“mythen verschleierte Selektionsmechanismen, „Die Grundschule von der Auslesefunktion befreien“ (https://bildungsklick.de/schule/detail/die-grundschule-von-der-auslesefunktion-befreien)
– die unangetastet bleibende Mehrgliedrigkeit des selektiven Schulsystems mit seinen weltweit längst überholten gymnasialen Bildungsprivilegien
– das ausgrenzende Förderschulwesen mit der Verweigerung der seitens der UN rechtlich und fachlich geforderten organisatorischen, pädagogischen und finanziellen Transformation des Schulwesens in ein inklusives Bildungssystem (vgl. bspw. Brigitte Schumann, „Der inakzeptable Umgang der Bildungswissenschaft mit der Schulstruktur“ (https://bildungsklick.de/hochschule-und- forschung/detail/der-inakzeptable-umgang-der-bildungswissenschaft-mit-der-schulstruktur )
– vor allem aber die massive Unterfinanzierung, Privatisierung und Entdemokratisierung der öffentlichen Bildungseinrichtungen durch die neoliberale Umverteilungspolitik.
Monika Domke – Lehrerin am Zweiten Bildungsweg i.R. / Britta Klostermann – Gesamtschullehrerin